Kapitel 1-3 als Download PDF
Es hat eine Weile gedauert… Ok, es hat richtig lange gedauert. Aber nun habe ich fertig… Erstmal.
Das 46 Seiten-PDF erzählt von Saarks und Jerune Vorgeschichte, ihrer Gefangenschaft und ihrem Treffen mit dem seltsamen Jungen namens Cor. Es gibt jede Menge Blut und Drogen, nur der Sex fehlt eigentlich. Mal sehen, vielleicht kann ich das in den nächsten Kapiteln nachliefern 😉 Bis dahin müsst Ihr ‚Game of Thrones‘ lesen.
Hier ist das Verlieswelt-PDF als Download. Viel Spass!
Kapitel III: Cor (8)
Mit tiefer Befriedigung sah Horas, wie der dumme Höhler ihn ungläubig anglotzte – als wäre er kein Mensch, sondern eine tanzende Fleischechse.
„Sieht so aus, als wäre euer Schlafzauber abgelaufen, Linienkratzer. Meiner wirkt leider immer noch.“ Er deutete mit einer lässigen Bewegung seines Nadelhornes auf den gelähmten Mentalmagier. „Eure Flucht ist zu Ende.“
Horas zielte auf den Kopf des Höhlers und zischte: „Als Erstes muss ich wissen, ob ihr unterwegs einen jungen, blonden Burschen getroffen habt? Wenn du vernünftig bist und antwortest, lasse ich dich ganz einfach in deine Zelle zurück bringen, anstatt dich mit Nadeln zu spicken. Also?“
Doch statt des Höhlers antwortete eine junge, ruhige Stimme im Rücken des Kerkermeisters:
„Ich bin hier, Sklavenjäger.“
Horas wirbelte herum und erkannte den Knaben. Der Knabe, hinter dem ganz Demos Kratein her war.
„Tut mir leid, wenn ich euch habe warten lassen. Aber ich musste mir mir erst mal eine passende Waffe besorgen.“
Irritiert bemerkte Horas, dass sich der Junge tatsächlich eine Waffe besorgt hatte:
ein Zweihandschwert, viel zu groß und viel zu schwer für den schmalen jugendlichen Körper.
Und doch hielt sein Gegner die Klinge so mühelos über dem Kopf, als wäre sie leicht wie eine Feder.
Trotz der Entropie, die ihn anpeitschte, beschlich Horas das Gefühl, dass es unklug sein könnte, sich auf einen Nahkampf mit dem seltsamen Burschen einzulassen. Es war ohnehin ratsam, den Kerl unbeschädigt beim Magistrat abzuliefern. Er musste nur etwas Zeit für einen Mentalzauber gewinnen, das war alles.
Horas richtete das Nadelhorn auf den Kopf des Linienkratzers, der neben ihm auf dem Boden lag und sagte: „Keinen Schritt näher, Junge, oder ich durchlöchere deinen Freund hier!“
Der Kerkermeister hatte nicht die geringste Ahnung, ob sich der Bursche für das Schicksal des dummen Höhlers interessierte. Aber die Ablenkung funktionierte: der Knabe erstarrte und blickte überrascht auf den Linienkratzer.
Zu weichherzig für die Verlieswelt.
Horas fixierte den Jungen und presste noch einmal die Formel des Schlafzaubers hervor: „Sartum Sar Etran!“
Und wieder jagte seine Magie angetrieben von der Wucht des entropischen Kriegstrankes aus ihm heraus… und prallte nutzlos gegen eine mentale Verteidigung, die undurchdringlich war wie eine Wand aus Stahl.
Horas vergaß zu atmen und erkannte an einer steilen Zornesfalte auf der Stirn seines Gegners, dass der Junge den Bezauberungsversuch gespürt und abgeblockt hatte.
Das Zweihandschwert fegte wie ein Blitz auf den Kerkermeister herunter.
Horas schrie und pumpte den Linienkratzer voll mit Aethernadeln.
Jerune war noch niemals in seinem Leben ernsthaft verwundet worden.
Trotzdem wusste er sofort, als die eisigen Nadeln in seinen Körper eindrangen, dass er in wenigen Augenblicken tot sein würde. Er blickte an seiner Seite herunter und sah Sturzbäche von Blut, die durch seine zerfetzten Kleider hindurch auf den Boden flossen.
Sein Herzschlag begann zu flattern und das scharfe Stechen in seiner Seite ging in einen dumpfen inneren Schmerz über. Jerunes Oberkörper knickte ein.
Aber da war Cor, direkt neben ihm. Er hielt immer noch das unmöglich riesige Schwert in seiner Hand, als wäre es ein Kinderspielzeug. Und da war Blut auf der Klinge.
Der Krateiner war nirgends zu sehen.
Als Cor sich mit sorgenvollem Gesicht neben ihn kniete, versuchte Jerune zu reden, doch der Schmerz verzerrte seine Worte zu sinnlosem Gurgeln. Jerune wollte ihr Schicksal bitter beklagen, denn sie waren so dicht vor ihrem Ziel gescheitert, dass selbst die sanftmütigen Denker vor Wut aufgeschrien hätten.
Fluch auf die Göttlichen Rassen, rief eine heisere, alte Stimme in ihm, die er noch niemals zuvor gehört hatte.
Fluch auf die verblendeten Krateiner, die noch immer auf die Lügen der Götter reinfielen.
Und Fluch auf die Verlieswelt.
Natürlich sinnlos, das stumme Geschrei, das nichts mehr ändern konnte. Jerunes Kopf sackte auf den Steinboden. Wie durch einen Schleier hindurch, sah er Cor, der immer noch neben ihm kniete.
Schade um den Jungen, dachte er, was für ein mutiger Mensch. Und voller Geheimnisse.
Zu gern hätte Jerune ihn mit nach 100 Höhlen genommen. Raus aus dem Dran Kadaar, raus aus der Sklavenschale in eine bessere Welt.
Immerhin ließ jetzt der Schmerz nach. Vielleicht hatte er tatsächlich eine Chance, in friedvoller Ruhe ins Licht zu gehen. Ein würdevoller Tod, wie ihn die Weisen seines Ordens bevorzugten.
Als Jerune spürte, dass seine Seele sich anschickte, auf die Reise ins Licht zu gehen, versuchte er noch einmal seinen trüben Blick zu fokussieren.
Was er sah, ergab keinen Sinn.
Da war Cor, doch das Gesicht des Jungen hatte sich verändert. Seine Augäpfel waren verschwunden. Stattdessen strahlte ein Leuchten, wie das goldene Morgenlicht der Runensonnen aus dem Kopf des Jungen heraus. Noch erstaunlicher aber war der Ausdruck von tiefstem Ernst, der Cors Gesicht wie eine Büste aus den alten Tagen erscheinen ließ.
Und dann spürte der Musterkundige ein durchweg seltsames Gefühl, dass gleichzeitig über seinen Körper und über seine Seele kam
„Was tust du?“ fragte er Cor und im selben Atemzug wunderte er sich, woher er plötzlich wieder die Kraft zu reden hatte.
„Ich ordne deinen Körper“, sagte der Junge mit den goldenen Augen. „Der Krateiner hat mit seinem Hass großen Schaden zugefügt. Aber solange deine Seele noch nicht ins Licht gegangen ist, kann ich die Wunden, die sein Zauber geschlagen hat, rückgängig machen.“
Die Hände des Knaben glühten nun genau wie seine Augen. Dort wo sie Jerune berührten, schlossen sich die Wunden und die Blutströme versiegten augenblicklich.
Der Musterkundige stöhnte auf. Nicht wegen der Schmerzen, sondern weil er endlich verstand, was er sah.
„Du bist ein Priester der Göttlichen Rassen. Nur ein Priester hat Macht über Leben und Tod“, sagte er. Wäre er nicht gänzlich erfüllt gewesen von der tiefen Ruhe, die Cors Magie über ihn gebracht hatte, so wäre Jerune sicher aufgesprungen und hätte den Knaben mit Wut von sich gestoßen.
Aber Cor schwieg und wirkte weiter an seinem Zauber, bis sämtliche Wunden geheilt waren.
Dann erlosch das goldene Licht seiner Augen und der vorsichtige Blick kehrte in sein Gesicht zurück.
„Ich bin kein Priester. Ich kann das, seit ich denken kann. Und mehr weiß ich nicht über mich, oder über die Priester der Götter.“
Als sich Jerune langsam erhob, fügte Cor hinzu:
“Öffne jetzt besser das Tor. Hier sind noch überall Krateiner, die bald aus dem Zauberschlaf erwachen werden. Ich kümmere mich um Saark.“
Und natürlich hatte der seltsame Knabe Recht. Also stolperte Jerune zurück zu dem uralten Portal, das schon seit 6000 Jahren den Zugang zum Dran Kadaar kontrollierte.
Und trotz der unzähligen Fragen, die in seinem Kopf herum wirbelten, fand der Musterkundige mit Hilfe seiner Kunst schon wenige Augenblicke später einen Schwachpunkt in den labyrinthischen Linien, die das Schloss des Portals steuerten. Mit einem winzigen Quantum arkaner Energie – die Musterkundigen sahen es als Tugend an, sparsam mit ihrer Zauberkraft umzugehen – veränderte er den Fluss im Muster des Tors. Staub und Sand wirbelten auf und die beiden Flügel öffneten sich mit dumpfem Donner, hinaus in die schweigende Dunkelheit der sechsten Schale der Verlieswelt.
Amathir, Priester des Stahl, des höchsten Gottes der Ordnung, war verwirrt.
Gerade als er einen machtvollen Fluch der Göttlichen Rassen über die Häretiker bringen wollte, sah er Unglaubliches. Ein schwacher Sklave – ein hagerer Knabe nur – bewahrte einen Sterbenden mit einer perfekten Anwendung der göttlichen Heilkunst vor dem Tod.
Der blonde Bursche war mit Sicherheit kein Mitglied der krateinischen Priesterschaft, denn als solcher wäre er niemals in Gefangenschaft geraten. Selbst ein Aussenweltler war vor den Sklavenjägern sicher, wenn er beweisen konnte, dass er ein Diener der Göttlichen Rassen war.
Außerdem war der Knabe ganz einfach zu jung.
Trotzdem brachte es Amathir nicht fertig einzugreifen, als der Linienkratzer mit seiner verbotenen Magie schließlich das Tor öffnete. Tatenlos sah er zu, wie der seltsame Junge den bewusstlosen Aussenweltler aus dem Kerker schleppte.
Erst als die Schritte der Flüchtlinge schon lange verhallt waren, wurde Amathir bewusst, dass das Geschehene einfach zu groß gewesen war.
Zu groß, als dass ein einfacher Priester aus der Bruderschaft der Reinen Bestrafung, Einfluss darauf nehmen könnte.
Aber auch zu groß, um es einfach auf sich beruhen zu lassen.
Amathir blickte sich um: der Dran Kadaar lag in Trümmern.
Erst der Sturm, dann die Revolte und zum Schluss der Tod sämtlicher Hauptleute.
Das einzig Aufrechte, was zu tun blieb, war, dem Magistrat schnellstmöglich von der Katastrophe zu berichten. Auch wenn das zum Ende von Amathirs Aufstieg in der Hierarchie der Priesterschaft führen musste.
Aber er war ein Priester des Stahl, des höchsten Gottes der Ordnung. Also raffte er sich auf und lief zum Kontrollraum des Dran Kadaar. Er wusste, dass es dort einen aureolischen Stirnreifen gab, mit dem er den Magistrat erreichen konnte.
Unterwegs traf er auf einen versprengten und verwirrten Wachmann, der ihm als Träger des Stirnreifs dienen würde. Ein Opfer mehr oder weniger machte nun keinen Unterschied mehr. Rechtlich gesehen war diese Entscheidung möglicherweise nicht ganz einwandfrei. Doch Amathir war sich sicher, dass Stahl, der universelle Richter und Rechtssprecher Verständnis hierfür aufbringen würde.
Der Magistrat musste informiert werden.
Kapitel III: Cor (6)
Horas atmete tief und gleichmäßig. Der entropische Kriegstrank wirkte noch immer und erfüllte seinen Körper und seine Seele mit klarer Ruhe. Neben ihm stand Amathir und heilte mit der Macht des Glaubens den Knochenbruch eines Wachsoldaten. Goldenes Licht schimmerte auf der Stelle des Armes, an der ihn der Priester berührt hatte. Mit einem hörbaren Knacken richtete sich der Bruch und die Wache verzog kurz schmerzhaft das Gesicht. Dann schloss der Mann entspannt die Augen und dankte mit einem kurzen Gebet Stahl, dem Gerechten.
„Gelobt seien die Göttlichen Rassen, ob der Macht die sie den Gläubigen freimütig schenken,“ sagte Dremail als er hinzu trat.
„Wir haben nur fünf Leute verloren,“ berichtet er an den Kerkermeister. „Aber von den Sklaven-Hunden liegen mindestens dreissig im Staub!“
„Ist der blonde Knabe unter den Toten?“ fragte Horas.
„Nein. Bestimmt steckt er noch immer in der Absicherungsmaschine. Fest an seinen Stuhl geschnallt.“
Nun schaltete sich Amathir in das Gespräch ein: „Es können nicht mehr viele Gefangene am Leben sein. Die meisten wurden vom Eisenwächter erledigt. Wieso durchkämmen wir nicht den ganzen Kerker und treiben die restlichen Sklaven zurück in ihre Zellen?“
Aber bevor ihm Horas erklären konnte, dass der Ausgang auf jeden Fall bewacht werden musste, solange der blonde Junge noch frei war, geschah etwas unerwartetes… die Wachsoldaten, die eben noch zusammen gestanden hatten, um mit einer Flasche Tago-Schnaps den Sieg zu feiern, vielen leblos zu Boden.
Mentalmagie! zuckte es Horas wie kaltes Feuer durch den Kopf.
Sofort griff er nach der Phiole an seinem Gürtel. Ein einziger Schluck – heiß wie die Sonnen der Runenwüste – würde ausreichen, um seinen Geist gegen jeden Lähmungszauber zu schützen.
Doch der Kerkermeister war zu langsam.
Bleischwere Gewichte hingen plötzlich an seinen Gliedern.
Seine Hände pendelten unkontrolliert an seiner Seite, anstatt nach der rettenden Flüssigkeit zu greifen. Alle Geräusch um ihn herum, auch seine eigene fluchende Stimme, wurden dumpf und leise.
Wie durch eine Nebelwand hindurch sah Horas, wie Dremail das Schwert aus der geschuppten Hand fiel. Der Reptiloide taumelte hin und her, um schließlich wie ein gefällter Belagerungsturm in den Staub zu stürzen.
Dann knickten auch Horas Knie ein. Das letzte, an das er dachte, bevor Saarks Magie seinen Geist komplett ausschaltete, war der Kriegstrank an seinen Gürtel.
Die Barrikade der Krateiner bestand vollständig aus Metallteilen. Tische, Stühle, Schränke, alles aus schwerem Eisen und scharfkantigem Stahl. Anderes Material hatten sie hier unten in der Sklavenschale auch gar nicht zur Verfügung, dachte Jerune während er vorsichtig den knarrenden, wankenden Wall erklomm. Bäume und Pflanzen lebten nur im Licht der Runensonnen von 100 Höhlen. In den restlichen Teilen der Humanoschale musste man auf Metall, Magie und poröses Pilz-Holz zurück greifen.
Als er endlich auf dem Kamm angekommen war, blickte Jerune in die hohe Eingangshalle, in der sich das Lager der Krateiner befand.
Machtvoll war Saarks Mentalmagie!
Ein Dutzend bewegungslose Körper lagen verstreut auf dem Boden. Es war niemand mehr bei Bewusstsein, der sie an ihrer Flucht hindern könnte.
Saark selbst gönnte sich keinen Triumph. Er rief Jerune zu: „Keine Zeit zu verlieren! Der Schlaf hält nicht ewig. Dort ist der Ausgang.“ Und er deutete auf ein schmales, hohes Portal, das am anderen Ende der Halle in die Felswand eingelassen war.
Jerune erkannte das Werk der Konstrukteure, der Erbauer der Verlieswelt.
Aus schwärzestem Ascheisen waren die Torflügel, überzogen mit dichten, filigranen Linien.
Natürlich, der Ausgang aus dem Dran Kadaar war durch Mustermagie gesichert, denn dieser Kerker war alt. Älter als Demos Kratein, 100 Höhlen und jedes menschliche Reich von Donjon.
Dieses Portal war nun seine Aufgabe. Hastig kletterte Jerune den Wall auf der anderen Seite herunter. Cor blieb dicht hinter ihm, wie ihm befohlen worden war.
Kapitel III: Cor (5)
Saark stand vor der versiegelten Eisentür und schloss die Augen. Jerune blickte unruhig zwischen dem konzentrierten Mentalmagier, Cor und der Tür hin und her.
Schließlich öffnete Saark seine Augen wieder und sagte: „Irgend etwas muss während unserer Rast geschehen sein. Jedenfalls spüre ich auf der anderen Seite der Tür kein intelligentes Bewusstsein mehr. Entweder sind unsere Verfolger abgerückt oder sie sind tot.“
„Dann werde ich das Schutzmuster von der Tür nehmen,“ antwortete der Musterkundige.
„Nur damit wir uns einig sind, Freund,“ sagte Saark leise aber bestimmt. „Der Bursche bleibt hier.“
„Er bleibt nicht hier,“ entgegnete Jerune. „Ich lasse niemanden in den Klauen dieser Bestien zurück.“
„Er wird uns behindern. Am Ende werden wir seinetwegen einen Fehler machen und sterben. Dann geht er entweder selber mit drauf oder er landet wieder hier drin. Was haben wir davon?“ fragte Saark mit gereizter Stimme.
Jerune blickte hinüber zu Cor, der ein paar Schritte abseits stand und die Arme verschränkt hatte. Der Blick des Jungen ruhte gelassen auf dem Aussenweltler.
„Er wird uns nicht behindern,“ erwiderte Jerune. „Wenn wir kämpfen, muss er den Kopf einziehen. Ich glaube, das kann er ganz gut. Cor kommt mit.“
Saark senkte seine Stimme zu einem Flüstern: „Cor heißt er also. Ihr habt schon Bekanntschaft geschlossen? Glaubst du, dass er dich genauso gut wie ich gegen die Waffen und Zauber dieser Krateiner verteidigen kann?“
Jerune ballte die Fäuste, als er antwortete: „Das weiß ich nicht, Aussenweltler. Aber ich weiß, dass du ohne mich nicht einmal diese versiegelte Tür auf bekommst.“ Und er fügte noch einmal mit Nachdruck hinzu: „Cor wird mit kommen.“
„Fragen wir ihn doch selbst,“ sagte Saark und drehte sich in Richtung des Jungen. Mit seiner Rechten vollführte er eine blitzartige Bewegung, während er kaum hörbar eine arkane Formel intonierte: Sartalos Sar Larax.
Jerune versuchte dem Magier in den Arm zu fallen, doch er war zu langsam. Saark wich geschickt aus, so dass der Musterkundige das Gleichgewicht verlor, stolperte, und zu Boden fiel. Saark zischte: „Fass mich nicht an, Tölpel, oder du bist der Nächste! Der Streit ist nun beendet. Der Kerl wird ab jetzt nur noch das tun, was ich ihm befehle.“ Dann wandte er sich wieder dem Knaben zu und sagte mit herrischer Stimme: „Und ich befehle Dir, dass du dich wieder auf den Steinthron setzt, um auf die Krateiner zu warten!“
Vor Wut zitternd rappelte sich Jerune wieder hoch. Dann blickte er auf den Knaben, der noch immer gelassen dem Streit der beiden älteren Männer zusah.
Cor machte keine Anstalten, Saarks Befehl zu folgen. Stattdessen sagte er: „Macht euch wegen mir keine Sorgen, Meister Saark. Wenn es zum Kampf kommt, werde ich meinen Kopf einziehen und niemandem im Weg stehen. Und sobald ich ein Schwert habe, werde ich euch den Rücken frei halten.“
Ungläubig starrte der Mentalmagier auf den Knaben. Dann schüttelte er langsam den Kopf und wiederholte seinen Befehl mit eindringlicher Stimme: „Setze dich auf den Thron, wie ich es gesagt habe! Das ist das Beste für dich, Junge.“
„Das glaube ich nicht. Aber fragen wir doch den weisen Jerune nach seiner Meinung,“ antworte Cor. “Einem Mustermeister erweist man auf Donjon Respekt. Und man hört auf seinen Ratschlag.“
Saark machte einen Schritt zurück und fragte fassungslos: „Wer oder was bist du?“
„Nur ein Pilzsammler aus dem Fallenland. Aber ich lasse mich weder von Sklavenjägern in Ketten legen, noch von dir behexen, Aussenweltler. Gebt mir ein Schwert und ich werde damit genauso viele Krateiner ins Nichts schicken, wie du mit deiner Hexenkraft.“
Jerune trat neben Saark und sagte langsam: „Du hast Recht gehabt. Der Junge ist außergewöhnlich, sonst wäre er nicht hier. Ich weiß auch nicht, ob wir ihm trauen können, aber am Ende wollen wir alle das Selbe: die Flucht.“
Saark schwieg und starrte mit bohrendem Blick auf Cor.
„Nur weil du den Jungen nicht kontrollieren kannst, ist er nicht automatisch dein Feind,“ fuhr Jerune fort. „Wenn er in der Lage ist, deine Mentalmagie abzuwehren, kann er vielleicht auch tatsächlich mit einer Waffe umgehen. Das könnte uns nützen!“
Mit einem wortlosen Kopfschütteln drehte sich Saark schließlich um und ging zur Tür.
Dann sagt er: „Das gefällt mir nicht. Aber es sei, wie du sagst, Jerune von Donjon. Der Bursche soll uns begleiten. Nun öffne die Tür!“
Jerune nickt und trat hinzu. Er berührte auf der Tür eine nahezu unsichtbare Musterlinie in Augenhöhe. Die geometrischen Linien flammten kurz auf, um danach spurlos zu verschwinden. Mit einem leisen Zischen öffnete sich die Tür. Der Gang dahinter war dunkel und leer.
„Das sind zu viele, da kommen wir niemals durch,“ sagte Jerune düster. Er zog sich vorsichtig hinter die Gangecke in den Schatten zurück. Die drei Flüchtlinge hatten nicht lange gebraucht, um den Ausgang des Gefängniskomplexes zu finden. Aber es sah nicht so aus, als ob die Krateiner ihre Sklaven einfach entkommen lassen wollten: die Wachen hatten aus Tischen, Stühlen und Abfall eine hohe Barrikade errichtet. Der Weg in die große Ausgangshalle war blockiert.
Nun schob sich auch Saark nach vorne, um sich die Stellung der Krateiner anzusehen. Cor wartete schweigend und regungslos hinter ihnen in der Finsternis des Ganges.
„Da liegen eine ganze Menge Leichen herum. Also haben schon andere Gefangene versucht durch zu brechen. Und sind gescheitert,“ sagte Saark.
„Was nun?“ fragte Jerune.
„Wir haben keine Wahl, wir müssen kämpfen. Mit etwas Glück können wir es bis zur Tür schaffen. Unser Ziel ist es nicht, alle Wachen zu töten. Wir wollen lediglich an ihnen vorbei.“
„Aber es sind viel mehr als wir! Und selbst wenn wir durch kommen, werden sie uns verfolgen.“
„Das glaube ich nicht. Sie müssen den Kerker bewachen. Wenn Sie uns verfolgen, bleibt der Kerker ungeschützt und noch mehr Sklaven könnten entkommen.“
Saark überlegte einen Moment. Dann sagte er: “Es sind etwa ein Dutzend Kämpfer. Die Hälfte kann ich durch Magie ausschalten. Die Frage ist: wie gut und entschlossen sind die restlichen Wachen?“
„Sie werden uns einkreisen und töten,“ sagte Jerune mit brüchiger Stimme.
„Nicht wenn wir sie überraschen und schnell ihr Offiziere ausschalten. Dort oben auf der Barrikade steht ein Posten. Ich kann für ein paar Augenblicke seinen Geist vernebeln, so dass er keinen Alarm schlägt, sondern mit sich selbst beschäftigt ist. Dann klettern wir so leise es geht auf den Wall. Wenn ich sie alle im Blick habe, lege ich sie schlafen. Dann rennen wir.“ Jerune unterdrückte das flaue Gefühl in seinem Magen und das nervöse Kribbeln seiner Fingerspitzen und sagte: „Wenn nicht genug einschlafen, kann ich das Muster auf dem Höhlenboden verändern, um eine Feuerfalle zu schaffen.“
„Sehr gut!“ lobte Saark. „Es hängt viel von ihrem Anführer ab. Wenn ich es schaffe, ihn zu unterwerfen, könnte es klappen. Wenn nicht…“ Er ließ den Satz unbeendet.
„Ich bin nicht feige, Saark,“ log Jerune. „Aber mit Schwertern kann ich nichts anfangen. Wenn es zum Kampf kommt, werde ich kaum eine Hilfe sein.“
„Ich schon,“ sagte Cor.
Saark drehte sich um und sagte kalt: „Wenn meine Schlafmagie funktioniert, wirst du genug Waffen zur Auswahl haben. Aber denk dran: das sind keine Bauerntölpel, sondern Soldaten. Und ich werde keinen einzigen Zauber verschwenden, wenn du dich selbst in die Scheiße geritten hast… wenn du also den Helden spielen willst, bitte.“
In die angespannte Stille hinein sagte Jerune: „Wir machen es, wie du geplant hast, Saark. Ich werde versuchen, das Muster der Gänge und Räume, so gut es geht, zu unserem Vorteil einzusetzen.“
„Deine Mustertricks gefallen mir allmählich. Wir brauchen nur noch ein bisschen Glück,“ antwortete Saark.
Es war alles gesagt. Wenige Augenblicke später schlichen sie auf die Barrikade zu, um das letzte Bollwerk zu überwinden, das sich zwischen ihnen und ihrer Flucht aus dem Kerker befand.
Kapitel III: Cor (4)
Horas saß im Schutz der Barrikade, die seine Wachen aus Metalltrümmern aufgetürmt hatten. Vorsichtig strichen seine Finger über die glatte Oberfläche seines besten Zauberstabes. Eine arkane Waffe, die den allumfließenden Aether so stark verdichten konnte, dass er zu spitzen, tödlichen Nadeln wurde.
Diese Nadeln, die in der Akademie auch als magische Geschosse bezeichnet wurden, konnten mit Hilfe eines simplen Kommandowortes auf einen Feind geschleudert werden. Bei den einfachen Leuten waren diese Zauberstäbe wegen ihrer leicht gekrümmten Form auch als Nadelhörner bekannt. Absolut treffsicher und problemlos zu bedienen. Normale Rüstungen aus Metall oder Leder booten nicht den geringsten Schutz. Lediglich mit arkanen Schildzaubern konnte man sich die Dinger vom Leib halten.
Allerdings waren die Nadeln so filigran, dass sie dem Körper verhältnismäßig wenig Schaden zufügten. Den Treffer einer einzelnen Nadel konnte man durchaus überleben. Zwei Geschosse reichten aber bereits aus, um einer Reitechse oder einem erfahrenen Soldaten den Garaus zu machen.
Horas überprüfte noch einmal die arkanen Symbole auf dem gekrümmten Schaft der Zauberwaffe. Dieses Nadelhorn stammte aus den berühmten aureolischen Waffenschmieden von Kardaraal und konnte drei Nadeln gleichzeitig verschießen.
Horas konnte keinerlei Beschädigungen feststellen. Zufrieden befestigte er die Waffe an seinem Gürtel. Seine Ausrüstung war in perfektem Zustand. Noch einmal griff er nach der Phiole mit den Kriegstrank. Er spürte das sanfte Wiegen der energetischen Flüssigkeit in dem winzigen Metallfläschchen.
Schnell und klar werde ich mich fühlen.
Wäre es nicht von Vorteil, schon jetzt einen Schluck des Trankes zu nehmen?
Die Wachen brauchten dringend etwas Motivation. Mit einem kleinen Schluck Entropie in den Adern könnte er schnell eine aufpeitschende Rede halten, um die Stimmung wieder etwas anzuheizen. Nur ein paar Worte über Kardaraal und die Heimat, über Extrasold und baldige Wachablösung. Seine Finger spielten mit dem Metallverschluss. Bevor er aber die Phiole öffnen konnte, riss ihn der Ruf eines Wachposten aus seinen Gedanken:
„Schritte im Hauptgang! Macht euch bereit für den Kampf!“
Als erstes war Dremail auf der Barrikade. Die restlichen Wachen kletterten ihm nach.
Dann flogen brennende Ölflaschen ins Lager. Beim Aufschlag zerplatzten sie und hinterließen flammende Pfützen. Verletzt wurde niemand – aber der beissende Qualm nahm den Verteidigern die Sicht und die Luft zum Atmen. Auf der anderen Seite des Walls waren die Gefangenen nun heran gekommen. Sehen konnte Horas sie nicht, doch er hörte ihre wütenden Schreie und das Krachen der Metallstücke, als sie auf die Absperrung kletterten. Dann begannen die Zweikämpfe.
Horas griff an seinen Gürtel und zog das Nadelhorn. Seine Hände zitterten, als hätte er eine Quecksilbervergiftung. Die Sklaven waren deutlich in der Überzahl und hatten schnell den Wall überwunden. Auf der rechten Seite der Höhle prügelte ein Daemon mit einem primitiven Stahlrohr auf Horas Männer ein, als wären sie nasse Sandsäcke.
In den Kampf eingreifen!
Der Kerkermeister machte mit dem Nadelhorn im Anschlag ein paar Schritte auf den tobenden Gegner zu. Eine normale Waffe konnten die dichte Haut des Daemons kaum durchdringen, aber eine Aethernadel war keine normale Waffe…
Horas zielte und versuchte sich auf den Schuss zu konzentrieren.
Was wäre, wenn die erste Salve nicht sofort töten würde? Das Vieh würde seine gesamte Wut auf ihn richten. Überall pfiffen Armbrustbolzen die Luft.
Plötzlich wurde er zur Seite gerissen. Dremail hatte ihn gepackt und zerrte ihn in Deckung.
„Wenn ihr nicht kämpfen könnt, passt wenigstens auf eure verfluchte Haut auf!“ knurrte der Reptiloide und diesmal war die Wut in seiner rauen Stimme nicht zu überhören.
Schon im nächsten Augenblick war der Hauptmann wieder bei seinen Leuten an der Barrikade und mähte mit seinem Langschwert die Angreifer nieder, die es wagten, in die Stellung einzubrechen.
Horas duckte sich tiefer in die Deckung. Dann riss er Amathirs Phiole auf und der Geruch der Flüssigkeit stieg ihm sofort in die Nase. Es war ein starker Kriegstrank, gesättigt mit reinster Entropie. Wahrscheinlich hatte der junge Priester ein Vermögen dafür bezahlt. Die Hälfte des Trankes würde ausreichen. Nur die Hälfte. Nicht alles. Er stürzte den Kriegstrank herunter und tatsächlich schaffte er es, nach drei Zügen die Phiole abzusetzen, bevor er sie komplett geleert hatte.
Die entropische Essenz fuhr wie ein glühender Speer in seine Eingeweide und erhellte seinen ganzen Leib mit Licht und Energie.
Er sprang auf.
Das Nadelhorn war in seiner Rechten und fühlte sich hart und real an, wie eine machtvolle Verlängerung seines Willens.
Er sah, wie die Sklaven mit ihren gestohlenen Waffen wie ein Welle schmutzigen Wassers über die Absperrung schwappten… und bestrafte ihre Impertinenz sofort mit einem Schauer aus Aethernadeln. Fast geräuschlos fuhren die unendlich spitzen Geschosse in das widerliche Fleisch der Humanos, Halbriesen, Reptiloiden, und allen anderen Gewürms, das es wagte, vor seine Augen zu treten.
Auch den Daemon mit der Stahlstange spickte der Kerkermeister mit den magischen Geschossen. Doch der unreine Körper dieses Rebellen brach nicht wie die anderen Opfer zusammen. Der Daemon heulte vor Wut, Schmerz und Hass und sprang mit unmöglich langen Sätzen auf den Kerkermeister zu.
Horas schoss einfach weiter und presste durch seine Zähne immer wieder das arkane Kommandowort des Nadelhorns: „Xar, Xar, Xar…“
Projektil um Projektil bohrte sich in den mächtgen, grotesken Körper.
Bevor der Daemon den Kerkermeister erreichen konnte, tauchte Dremail zwischen den beiden Kontrahenten auf. Blitzend durchschnitt sein Schwert die feste Haut des Daemons und trennte den Kopf vom Hals.
Ekstatisch riss der Hauptmann seine Waffe hoch und brüllte: „Lang lebe der Magistrat!“
Horas nickte ihm mit blitzenden Augen zu und brüllte heiser zurück: „Der Magistrat!“
Dann stürzten sie sich zusammen in den Kampf und machten den Sklaven ein für allemal klar, warum Demos Kratein die vorherrschende Macht in den Humanoschalen war.
Kapitel III: Cor (3)
Jerune und der Knabe hatten sich abseits von Saark auf den Boden gesetzt. Während sie ein paar magere Vorräte verzehrten, die von toten Wachen stammten, versuchte Jerune, mehr über den Jungen heraus zu bekommen.
„Ich bin Jerune und komme aus 100 Höhlen. Darf ich deinen Namen erfahren?“
„Ich bin Cor,“ antwortete der Knabe mit ruhiger Stimme. Keine Angst, keine Unsicherheit.
„Und wie bist du in diesen Kerker geraten? Wurden deine Eltern von Sklavenjägern überfallen?“
Cor blickte kurz zur Seite. Dann sagte er: „Ich bin Pilzsammler. Ich war allein in den Flammenfels-Kavernen, als ich gefangen wurde. Was mit meinen Eltern ist, weiß ich nicht.“
„Mach dir keine Sorgen. Wir kommen bald hier raus. Wenn mein Freund ausgeschlafen hat, wird sich seine Laune bessern und wir fliehen gemeinsam. Er ist ein ziemlich geschickter Zauberer.“
„Das ist gut. Aber ist er wirklich dein Freund?“
Der Musterkundige wusste nicht, was er antworten sollte und schaute zu Boden. Cor war in der Tat kein gewöhnlicher Junge. Er hatte Jerunes Problem klar erkannt.
Konnte er seinem Gefährten wirklich vertrauen? Oder musste er damit rechnen, bei nächster Gelegenheit selber zum Opfer von Saarks Mentalmagie zu werden?
Noch einfacher wäre es für den Aussenweltler, wenn er den jungen Cor mit Hilfe eines Zaubers dazu zwingen würde, hier in der Höhle zu bleiben. Was war dann zu tun? Den Knaben hinter sich her schleifen?
„Ich weiß es nicht,“ antwortete er schließlich. „Aber ohne meine Hilfe wird er es schwer haben, sich auf Donjon zurecht zu finden. Er ist ein Aussenweltler.“
„Und du bist ein Musterkundiger. Wenn er tatsächlich fliehen will, bist du der beste Verbündete, den er kriegen kann.“
Erstaunt schaute Jerune auf und blickte in Cors Augen. Blau und ungewöhnlich hell. Die Schwellung durch die Wunden war bereits am Abklingen.
„Für einen jungen Pilzsammler bist du ziemlich gescheit. Woher weißt du, dass ich Musterkundiger bin?“
„Ihr habt euch über die Tür unterhalten, bevor ihr mich entdeckt habt. Außerdem verraten dich deine Finger.“ Cor deutete auf das feine Muster, das Jerune währen ihrer Unterhaltung unbewusst in den Staub gemalt hatte.
„Du hast scharfe Augen. Wieso solltest du hier bezaubert werden?“
„Ich habe schon früh gelernt, mich zu verteidigen. Als die Sklavenjäger mich fangen wollten, mussten sie mit Blut bezahlen.“
Jerune musterte noch einmal den schlanken Jungen. Allein gegen eine Truppe krateinischer Sklavenjäger? Cor wirkte nicht gerade wie ein Gladiator.
„Das soll ich dir glauben? Nun komm, warum bist du wirklich hier?“
„Das ist die Wahrheit. Es ist, wie es ist. Und ich habe keinen Grund zu lügen,“ erwiderte der Junge und eine einzelne gerade Falte erschien auf seiner Stirn, genau zwischen seinen Augen.
Jerune winkte ab.
„Lassen wir es gut sein. Wir sollten uns ausruhen.“
„Noch nicht. Auch ich habe Fragen,“ entgegnete Cor mit entschiedener Stimme.
Wieder blickte der Musterkundige erstaunt auf den Knaben. Dann sagt er: „Natürlich. Was willst du wissen?“
„Was ist in der Gefängnishalle passiert? Wie seid ihr entkommen?“
„Es gab einen Unfall. Wir Gelehrten nennen es einen Musterorkan. So etwas kommt sehr selten vor. Auf jeden Fall hat es die Wachen in der Kugelhalle ziemlich durcheinander gewirbelt und es kam zu einem Aufstand.“
„Wie viele Wachen sind hinter euch her?“
„Schwer zu sagen. Am Ausgang gab es eine böse Schlacht. Viele tote Gefangene, aber auch eine Menge Krateiner, die gefallen sind. Wir konnten nur mit Hilfe von Saarks Magie raus kommen und…,“ Jerune zögerte, „… und weil er die Nerven behalten hat.“
„Ich verstehe,“ sagte Cor leise.
Ich verstehe.
Ein wenig später hatten sie sich auf dem nackten Steinfußboden zum Schlafen hin gelegt.
Ich verstehe. Lächerlich.
Wie konnte ein bartloser Jüngling verstehen, wie sich die Schuld anfühlte, die sich nach ihrer brutalen Flucht in Jerunes Brust aufgetürmt hatte?
Cors Benehmen passte nicht zu einem fünfzehnjährigen Jungen. Zu einem Pilzsammler aus der Einöde schon gar nicht. Der Musterkundige musste widerwillig zugeben, dass Saarks Verdacht nicht ganz unbegründet war. Cor war kein normaler Knabe…aber was war er dann?
Ein Gestaltwandler?
Und was würde morgen passieren? Was sollte er tun, wenn Saark seine Mentalmagie gegen Cor oder sogar gegen ihn selbst, Jerune, richten würde ?
Seine Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen, doch trotz aller Erschöpfung wollte der Schlaf nicht kommen. Er wälzte sich von einer unbequemen Position in die nächste.
Die blutigen Bilder ihres Kampfes am Tor tauchten immer wieder in Jerunes Kopf auf.
Neben ihm hatte sich Cor zusammen gerollt wie eine Katze. Und atmete ruhig und regelmäßig.
Kapitel III: Cor (2)
Die uralte Eingangshalle des Dran Kadaar war gebaut wie eine Kathedrale der Göttlichen Rassen. Hoch aufragende Säulen, jede verziert mit den uralten, arkanen Mustern der Konstrukteure. Sie trugen eine stolz geschwungene Decke, die in einem spitzen Bogen zusammen lief, hoch über den winzigen Humanos, die wie hektische Felsameisen in der Halle umher liefen.
Eine dieser Ameisen war Horas, der Kerkermeister. Verschwitzt und mit zittrigem Blick hastete er durch die Reihen der Wachen, die sich hier gesammelt und verschanzt hatten, um die Sklavenhorde an der Flucht zu hindern.
Seit ihn Dremail hier abgesetzt hatte, war er nicht mehr zur Ruhe gekommen. Seine Gedanken kreisten um den blonden Kerl, an dem Heresial so brennend interessiert war, und der bei seiner Gefangennahme fünf Sklavenjäger mit einem rostigen Kurzschwert getötet hatte.
Der blonde Knabe, den sie wegen Dremails Sturheit in der Absicherungskammer gelassen hatten.
Eine Rückkehr dorthin war inzwischen ausgeschlossen. Die geflohenen Sklaven hatten sich längst zu eine Bande zusammen getan und kontrollierten nun alle Kammern, bis auf die Eingangshalle. Das hier war das letzte Bollwerk, das verhindern musste, dass sich die Flut der Gefangenen durch das Ausgangsportal des Dran Kadaar in die Freiheit ergießen würde.
Freiheit ?
Auf Donjon war niemand frei. Weder in den reichen Städten von Demos Kratein mit all ihren Annehmlichkeiten, noch in der Wildnis der 6. Schale. Warum riskierten die Flüchtlinge Leib und Leben, um durch das Portal von einer kleinen Zelle in eine etwas größere zu gelangen? Horas versuchte die Zweifel aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Der Kampf mit der Sklavenbande stand unmittelbar bevor und er befand sich in einer miserablen Verfassung. Aber er hatte eine Idee was dagegen getan werden könnte.
Und deshalb ging der Kerkermeister auf das stolze Banner mit dem Kreiskreuz des Stahl zu. Amathir, der Priester des Kerkers, hatte es hier aufgepflanzt. Direkt vor dem Ausgangsportal. Ein Zeichen für Angreifer und Verteidiger: der Ausgang des Dran Kadaar bleibt verschlossen. Im Namen von Stahl dem universellen Gott der Ordnung. Im Namen der Göttlichen Rassen.
Unter dem Banner lagen die Verletzten.
Amathir war unter ihnen und wirkte die heilende, magische Gnade der Götter. Unermüdliche beteten seine Lippen. Das dunkle, lockige Haar klebte vor Schweiß auf seiner Stirn. Wo seine Hände die geschundenen Leiber berührten, leuchtet weißes Licht… und Wunden und Brüche verschwanden spurlos.
Horas war jedes Mal aufs Neue beeindruckt, wenn er das Werk eines Priesters beobachten konnte, aber er wusste, dass ihm der Pfad der Heiligkeit durch seine Zweifel verwehrt war. Die Gerechtigkeit der Götter zu akzeptieren, hieße die Gerechtigkeit der Verlieswelt anzuerkennen. Das war dem Kerkermeister, der ohne jedes eigenes Verschulden in diese Welt hineingeboren worden war, unmöglich.
Sinnlose Zweifel.
Was ihm wirklich etwas nützen würde, wäre etwas entropische Hilfe für den Kampf gegen die Flüchtlinge. Und er war sich sicher, dass Amathir ein kleines bisschen von dem besaß, das ihm, Horas, einen entscheidenden Vorteil verschaffen könnte.
„Ihr seht krank aus, Kerkermeister.“ Die Stimme des Priesters riss Horas aus seinen Gedanken. Er blickte in Amathirs graue Augen, die ihn fixierten. Wie immer, wenn ihn der Priester in diesen unsichtbaren Griff nahm, fand Horas keine Worte, bis er schließlich den eigenen Blick zu Boden gesenkt hatte.
“Ihr habt Recht. Der seltsame Sturm. Die Sklavenrevolte. Die Verantwortung lastet schwer auf mir, Vater.“ Die traditionelle Anrede des Priesters kam ihm nur schwer über die Lippen. Weder durch Alter, noch durch Macht oder Geburt stand der Priester über ihm. Und doch war es ratsam, den Dienern der Göttlichen Rassen Respekt entgegen zu bringen.
Und sei es nur, um in Situationen wie diesen, auf ihre Hilfe zurückgreifen zu können.
Der Kerkermeister setzte an: „Amathir, ich weiß, ihr seid aufs Äußerste bemüht, die Kampfkraft meiner Wachen zu stärken. Aber was nützt die beste Armee, wenn ihr Hauptmann im Fieber liegt? Ich brauche eure Hilfe!“
Der Priester zog eine Augenbraue hoch: „Was fehlt euch? Leidet ihr an einer Krankheit, Kerkermeister? Sprecht ein Wort und ich werde mit der Wahrheit des göttlichen Stahl euren Körper reinigen und alle Infektionen aus ihm verbannen.“
„Keine Krankheit. Die Sorge wiegt schwer auf meiner Seele…“ Nun war es Zeit das Schwafeln zu beenden, dachte Horas und fuhr fort: „Ich weiß aus den Verkaufsbüchern, dass ihr im Besitz eines entropischen Kriegstrankes seid. Ich bitte euch, Vater, gebt ihn mir, damit ich die Wachen gegen die Ausbrecher anführen kann.“
Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen. Das Stöhnen der Verletzten drang dumpf wie durch Watte an Horas Ohren. Dann wurde das Gesicht des Priesters zu einer abweisenden Maske. Er reckte das Kinn vor und sagte: „Als reicher, adliger Arkanist mit den besten Verbindungen solltet ihr über eigene Vorräte für eine Situation wie diese verfügen.“ Er machte eine kurze Pause und fixierte Horas erneut mit seinen kompromisslosen Augen. „Oder verhält es sich vielleicht so, dass ihr durch eure widerlichen Sucht sämtliche entropischen Elixiere längst in euren schwachen Leib hinein gepumpt habt?“
Diesmal musste Horas dem Blick des Priesters stand halten. Nachgeben und sterben. Zu Boden blicken und krepieren.
Mit gesenkter Stimme antwortete Horas: „Bei der Weisheit Anasporas, sprecht leise! Wir sind im Krieg, Vater! Hört auf, meine Führung in Frage zu stellen, oder der Kampf gegen die Sklaven ist bereits verloren.“ Amathir blickte verärgert zur Seite und schüttelte den Kopf. Sofort spürte Horas dass er den richtigen Punkt getroffen hatte. Politik lag seiner Familie im Blut. So schmerzhaft konnte kein Entropie-Entzug sein, dass er dieses Talent verlieren würde. Alles was fehlte war eine offensichtliche Lüge, die es Amathir erlauben würde, sein Gesicht zu waren.
Also sagte Horas: „Meine Vorräte sind durch den unheiligen Sturm komplett vernichtet worden. Gebt mit den Kriegstrank, oder wollt ihr die Wachen selber in den Kampf führen?“
„Vielleicht sollte ich das wirklich tun“, sagte der Priester, griff aber dabei an seinen Gürtel und löste eine kleine Metallphiole. Ohne weitere Worte reichte er dem Kerkermeister den Trank. Horas drehte auf dem Absatz um und überließ Amathir seinen Pflichten zwischen den Verletzten.
Während er die prächtige Halle durchschritt, legte er sich seine nächsten Schritte zurecht.
Als erstes musste er die Barrikaden inspizieren, die Dremails Wachen errichtet hatten.
Es wird zum Kampf kommen, das war klar.
Aber es gab keinen Grund zur Unruhe, denn nun waren der Kerkermeister und seine Wachmannschaft perfekt vorbereitet. Und in nicht allzu ferner Zukunft würde Verstärkung aus den umliegenden Sklavenjäger-Camps eintreffen.
Horas hatte seine linke Hand zur Faust geballt. Und in der Faust war die Stahlphiole.
Kapitel III: Cor (1)
Jerune und Saark befanden sich irgendwo in den Gängen des Dran Kadaar.
Hinter dem Portal waren sie in Kämpfe zwischen Wachen und Ausbrechern geraten. Doch da sie die Kugelhalle nun verlassen hatten, konnte Saark seine Mentalzauber einsetzen.
Ohne jegliches Zögern hatte er sowohl Wachen, als auch Gefangene gelähmt, eingeschläfert oder mental dominiert, um die Kontrolle über ihr Handeln zu übernehmen.
Auf diese Weise hatte er für sich und Jerune Wasser, Nahrung und natürlich Waffen beschafft. Dann hatten sie die umkämpften Gänge hinter sich gelassen und waren tiefer in die verzweigten Gewölbe des uralten Kerkers geflüchtet.
Dieser Bereich des Dran Kadaar war möglicherweise für die Offiziere bestimmt. Überall auf dem kunstvoll behauenen Schwarzfels glühten magische Muster in silbrigem Licht. Sie erwachten zu glitzerndem Leben, wenn man sich ihnen näherte und verloschen wieder, wenn man sie hinter sich ließ. Jerune kam es vor, als würden sich die Zauberzeichen wie kleine aufgeregte Kinder um seine Aufmerksamkeit bemühen. Aber seine Gedanken konnten sich unmöglich von den grausamen Bildern lösen, die er während seiner Flucht gesehen hatte. Immer wenn er seine erschöpften Augen schloss, erschienen die erschlagenen Wachen und blutigen Flüchtlinge und starrten ihn an. Also marschierte er schweigend hinter Saark her und starrte auf dessen verdreckte Kutte.
Sie waren nur ein paar Schritte weiter gegangen, als ein schwarzer Schatten sich auf dem filigranen Leuchten des Bodens abzeichnete: die Leiche eines Gefangenen, niedergestreckt von mehreren Armbrustbolzen.
„Wir müssen weiter Richtung Ausgang,“ sagte Saark und Jerune nickte wortlos.
Ich habe diesen toten Menschen dort aus seiner Zelle befreit, dachte der Musterkundige. Sofort versuchte er den finsteren Gedanken wieder zu verbannen, doch die Schuld steckte kalt wie ein Dolch in seiner Brust. Sie stiegen über die Leiche und setzten ihren Weg durch die silbrig schimmernden Gänge fort.
Schließlich blieb Saark stehen und schloss die Augen. Mit müder Stimme sagte er:
„Es nützt nichts. So schnell kommen wir hier nicht raus. Dieser Kerkerkomplex ist viel größer, als ich dachte. Und außerdem…“, er zögerte, “… bin ich müde. Die Magie fordert ihren Preis. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Wir müssen rasten.“
Jerune sagte leise: „Wie sind noch über zweitausend Schritte von den Toren in die offenen Höhlen entfernt. Aber etwa hundert Schritt weiter kommt eine Abzweigungen, die zu mehreren kleinen Kammern führt. Vielleicht können wir uns dort verstecken.“
Saark schlug wieder die Augen auf und starrte ihn an.
„Wieso kennst du dich hier so genau aus?“
„Musterkunde. Die Konstrukteure, die Donjon einst erschaffen haben, gehen immer anhand bestimmter Regeln vor. Diese Regeln hat mein Orden bereits vor über dreitausend Jahren erforscht. Und ich selber habe sie studiert, seit ich zwölf Jahre alt bin. Glaub’ mir, da vorne kommt eine Abzweigung.“
Saark zog eine Augenbraue hoch und murmelte: „Dann sehen wir doch mal nach.“
Nach exakt einhundert Schritten standen sie an einer Abzweigungen nach rechts.
„Erstaunlich. Ich hatte dich für einen Wirrkopf gehalten,“ sagte der Aussenweltler und blickte Jerune abschätzend in die Augen. „Aber es scheint, als hättest du einige sehr nützliche Talente. Hast du mit so einem Trick die Zellentüren in der Kugelhalle geöffnet ?“
Der Musterkundige hakte seine schmalen Hände in den Strick, der ihm als Gürtel diente, und hob leicht sein Kinn. Dann antwortete er: „Die Sache mit den Schlössern war komplexer. Eine Manipulation des Musters der Kugelhalle. Dass ich den Überblick über die Gänge und Räume um mich herum habe, ist einfach nur Logik.“
Und er fügte nach kurzem Schweigen hinzu:
„Eine friedliche, hoch angesehenen Kunst, die einen auf Donjon weiter bringen kann, als Schwerter und Feuerbälle…“
„Mag sein. Aber hin und wieder gerät man in Situationen, in denen Kampf der einzige Ausweg ist,“ sagte Saark trocken und zuckte mit den Schultern.
Jerunes Gesicht verfinsterte sich, doch bevor er widersprechen konnte, drang das metallische Klappern von Rüstungen und Waffen an seine Ohren. Die Geräusche kamen aus dem Hauptgang, genau vor ihnen.
„Ein Rückzug zur Kugelhalle ist ausgeschlossen,“ flüsterte Saark und deutete auf den schmalen Seitengang, den Jerune voraus gesagt hatte.
Nur schnell müssen wir sein, dachte der Musterkundige während sie durch den Tunnel hasteten. Und er betete zu den Sanften Denkern, dass ihre Verfolger nicht das Leuchten des Musters sehen mochten, das auf den Wänden erschien, an denen sie vorbei liefen.
Der schmale Gang führte Saark und Jerune an eine verschlossene Tür aus Ascheisen. Während Jerune die Tür untersuchte, blickte sich Saark nervös um.
„Sie haben uns noch nicht bemerkt. Aber wenn sie ebenfalls in den Gang einbiegen, sitzen wir in der Falle. Wir müssen durch diese Tür, Freund!“
„Etwas Geduld. Die Tür hat ein magisches Siegel. Allerdings kein besonders originelles…“
Jerune tippte mit gespreiztem Zeige- und Mittelfinger auf das dunkle Metall. Einen Herzschlag lang glühte ein feines Linienmuster auf. Dann sprang die Tür ohne jedes Geräusch auf.
Rotes Licht floss auf den Gang. Schnell schob Saark seinen Gefährten durch den Türspalt.
Der Raum, in dem sie standen, war eine etwa zwanzig Schritt große Naturhöhle mit uralten, felsigen Wänden. In der Mitte standen sechs dunkle Steinthrone, die kreisförmig um eine dicke Metallsäule gruppiert waren. Die Säule ragte vom Boden bis zur Decke und war vollständig mit bizarren, metallischen Augen bedeckt, die in alle Richtungen starrten. Diese Augen waren auch die Quelle des roten Lichtes.
Noch seltsamer als die Säule waren die Metallarme, die aus den sechs Thronlehnen hervor wuchsen. Es schien Jerune, als versuchten die dürren Greifer wie Metallspinnen um die Rückenlehnen herum zu packen. Falls irgend ein armer Kerl dort Platz nehmen müsste, würden ihn die Arme sofort ergreifen und für immer auf den Steinthronen festhalten.
Krateinische Hexen-Maschinen.
Saark, der Jerunes angewidertes Gesicht bemerkt hatte, sagte: „Bei den Göttern, das ist nichts weiter als der Konditionierungszirkel. Nur eine Maschine. Hör auf zu glotzen und mach die Tür dicht, bevor die Wachen hier sind.“
Jerune schüttelte den Kopf und wandte sich dem Eingang zu. Er verschloss die Eisentür auf dieselbe Art, wie er sie geöffnet hatte: mit einem Musterzauber.
„Wird das halten?“ fragte Saark mit einer Sorgenfalte auf der Stirn.
„Ich habe das Schloss ein wenig modifiziert. Wenn die Krateiner da durch wollen, brauchen sie entweder einen Rammbock oder einen sehr guten Musterkundigen.“
„Hoffen wir, dass du Recht hast. Soweit ich sehen kann, hat diese Höhle keinen weiteren Ausgang.“
Saark setzte sich erschöpft gegen die Felswand. Dann fügte er hinzu:
„Ich muss mich ausruhen. Magie kostet Kraft.“
„Das weiß ich, aber…“
„Mach Dir keine Sorgen. Solange dein Zauber die Tür schützt, ruhe ich mich aus. Wenn ich wieder auf den Beinen bin, kommen wir hier raus. Egal wer draußen wartet.“
Wie eine Antwort dröhnten plötzlich dumpfe Schläge gegen die Tür.
Saark schreckte hoch und griff zu seinen Waffen. Jerune aber hob ruhig die Hand und deutete auf das Muster, das er angebracht hatte: es glühte auf, während es alle Wucht der Schläge mühelos absorbiert. Sogar ein Teil des Lärms wurde durch den Zauber gedämpft.
„Ich mache mir keine Sorgen, Saark. Jedenfalls nicht wegen der Tür. Aber ich mag diese Maschine nicht. Bevor ich die Augen schließe, sehe ich mich um.“
Müde winkte Saark ab und sagte: „Ich sagte doch schon, das ist nichts, wo vor man sich fürchten muss. Aber sieh dich um… kann nicht schaden.“
Vorsichtig ging Jerune auf die Augensäule zu, hinein in den Kreis der Throne.
Dieses war der Ort, an dem die Krateiner den freien Willen ihrer Gefangener zerbrachen, um sie zu Sklaven zu machen. Offenbar kannte sich Saark mit solchen Methoden gut aus.
Die metallischen Augen auf der Säule hatten Pupillen aus roten Edelsteinen, aus denen das rote Licht wie dünne Finger heraus strahlte. Im Gebiet der magischen Eigenschaften von Mineralien war Jerune gründlich ausgebildet worden. Die Steine waren vermutlich Karanit. Es gab kein Material, das die Schwingungen eines intelligenten Bewusstseins besser auffangen und beeinflussen konnte, als dieser blutrote Edelstein.
Als er seinen Gedanken nach hing, tönte plötzlich ein erschöpftes Stöhnen direkt hinter der Säule.
Jerunes Herz machte einen eiskalten Satz und erstarrte.
Sie waren nicht allein.
Es kostete Jerune alle Willenskraft, die Säule zu umrunden und auf den gegenüberliegenden Thron zu blicken.
Ein blonder Knabe von vielleicht 15 Jahren. Die spinnenartigen Metallarme, die aus der Lehne heraus wuchsen, ragten in sein Gesicht hinein. Zwei der Greifer waren vor seinem Mund justiert und drückten einen Lederknebel hinein. Vier weitere Arme, die in spitzen Haken endeten, waren durch seine Lider gestoßen worden, so dass der arme Kerl nicht mehr in der Lage war, seine Augen zu schließen. Ein konstanter Rinnsal aus Blut und Tränen rann über seine Wangen auf seine schmutzigen Kleider.
Sanfte Denker, wer tut so etwas?
Erstaunt bemerkte Jerune, dass Saark bereits neben ihm stand, mit einem gezückten Schwert in der Hand. Sein Gefährte musterte den Knaben und sagt dann: „Er sollte konditioniert werden. Wahrscheinlich hat dein Musterorkan die Prozedur unterbrochen.“
„Nimm die Haken aus seinen Augen!“ sagte Jerune mit belegter Stimme.
Der Junge stöhnte durch den Knebel. Bewegen konnte er sich nicht, denn Arme, Hals und Beine waren mit Stahlbändern an den Thron gefesselt. Seine entzündeten Augen blickten auf Saark, der keinen Finger rührte.
Nach einer halben Ewigkeit sagte der Aussenweltler: „Warum halten sie ihn hier gefangen? In seinem Alter kann der Wille auch ohne Magie leicht gebrochen werden. Warum stecken sie ihn in einen Kerker für Zauberer und Dämons?“
„Saark, mach ihm endlich die Haken aus den Augen!“ fuhr Jerune dazwischen.
„Wie du willst. Aber ich warne dich, Jerune… dieser Junge ist mit Sicherheit kein gewöhnlicher Sklave.“
Trotzdem begann Saark mit geschickten Griffen die Metallhaken aus den Augen des Knaben zu lösen. Mit sachlicher Stimme erklärt er dabei dem fremden Burschen: „Das ist keine sinnlose Folter, Junge. Die Haken in deinen Augenlidern stellen sicher, dass die Hypno-Zauber, die aus der Säule auf dich gestrahlt werden, auch ins Innere deines Kopfes gelangen. Wäre sinnlos, wenn du einfach die Augen schließen könntest.“
Nachdem Saark auch die Metallfesseln und den Knebel gelöst hatte, krümmte sich der Junge zusammen und presste stöhnend seine Hände auf die geschundenen Augen.
Saark sagte zu Jerune: „Komm auf keine dummen Ideen. Der Kerl wird uns auf keinen Fall begleiten. Wenn wir fliehen, bleibt er in dieser Kammer.“
„Er ist noch ein Kind. Wie können ihn unmöglich bei den Krateinern lassen!“
„Doch, das können wir. Ich kann es jedenfalls. Und darauf kommt es an. Außerdem ist er kein Kind mehr. Sonst wäre er nicht hier.“
Jerune schüttelte nur den Kopf. Dann holte er eine erbeutete Wasserflasche und reichte sie dem Jungen.
Langsam löste der Bursche die Hände von den Augen und griff nach dem Wasser. Jerune bemerkte, dass die Verletzungen weniger schwer waren, als er erwartet hatte. Das Blut war bereits getrocknet und nun sah es nur noch aus, als hätte der Knabe geschwollene Augen. Er trank mit ruhigen Zügen. Als er fertig war, verschloss er die Feldflasche und reichte sie zurück.
Hinter ihnen knurrte Saark: „Du verschwendest unser Wasser. Der Junge ist praktisch schon tot. Die Kämpfe, die morgen auf uns zukommen, wird er nicht überleben.“
Ohne sich umzuwenden erwiderte der Musterkundige: „Ich werde das Schutzmuster erst von der Tür nehmen, wenn ich dein Wort darauf habe, dass wir ihn mitnehmen.“
Saark ging zurück zu seinem Platz an der Felswand, setzte sich und schloss die Augen.
Dann sagte er leise zu sich selbst: „Das werden wir abwarten, mein Freund. Morgen früh sehen die Dinge anders aus.“
Und obwohl Jerune die Worte nicht gehört hatte, schwebte Saarks Drohung wie eine schwarzer Labyrinthnebel in der Kammer.
Kapitel II ist fertig, Kapitel I ist als PDF Download bereit
Lange hat es gedauert. Sorry, aber das ist mein Arbeitstempo. Immerhin bin ich bisher dran geblieben. Sollte tatsächlich jemand gespannt auf das dritte Kapitel warten, so kann ich versichern, dass es bereits fertig geschrieben ist und nur noch online gestellt werden muss.
Außerdem habe ich es geschafft, eine überarbeitete Version von Kapitel I mitsamt aller Zusatztexte (Prologe, Prologe…) als PDF aufzubereiten und hier zu verlinken. Hat Spaß gemacht. Ich hoffe, Ihr habt genau so viel Spaß beim Lesen und verzeiht mir die Schreibfehler.
Kapitel1_PDF_download_verlieswelt_roman
Kapitel II: der Sturm (6)
Um Jerune herum brach das Chaos los. Noch war er unverletzt, doch angesichts der kalten Präzision, mit der die Maschine die Flüchtlinge niedermetzelte, war es nur noch eine Frage von Augenblicken, bis ihn eines der Geschosse erwischen würde.
Während er verzweifelt nach Deckung suchte, spürte er in seinem Inneren, wie seine Seele erneut vom allumfließenden Aether abgeschnitten wurde. Der Musterorkan hatte sich endgültig gelegt und der Eisenwächter absorbierte nun sämtliche verbliebene arkane Energie, die sich noch in der Kugelhalle befand.
Nur ein paar Schritte vor Jerune ragte das Portal auf. Davor hatte sich aber eine dichte Traube von Gefangenen angestaut, die panisch versuchten, sich in Sicherheit zu bringen und so den Ausgang komplett verstopften.
Doch der Druck der Menge ließ plötzlich nach. Aus dem Augenwinkel heraus sah Jerune, wie der Halbriese, der ihn und Saark bis eben eingeklemmt hatte, von einer schweren Messinglanze durchbohrt wurde und nach hinten weg kippte. Saark hob eine zerborstene Armbrust auf, die kurz zuvor noch in den Händen einer Wache gewesen sein musste. Dann packte er Jerune am Arm und zerrte ihn hinter sich her, während er sich mit der Armbrust – wie mit einer Keule – eine Schneise durch die Menge prügelte. Ohne Rücksicht drosch er von hinten auf die Flüchtlinge vor dem Portal ein. Jerune wollte protestieren, doch statt dessen kniff er die Augen zusammen, um das Grauen nicht mit ansehen zu müssen.
Und während der Eisenwächter einen kurzen Herzschlag inne hielt, um den Wald aus Waffen nachzuladen, bahnte Saark einen blutigen Weg für sich und Jerune durch das Tor. Raus aus der Kugelhalle.
Der Kerkermeister saß zitternd auf einem der harten Steinthrone der Kontrollkammer.
Die Entscheidung, den Eisenwächter zu aktivieren, war in der Tat nicht die Beste gewesen. Die Maschine hatte sowohl die Sklaven als auch seine eigenen Leute niedergemetzelt. Dann hatten die Wachen am Portal die Nerven verloren und ihren Posten aufgegeben.
Ein ganzer Haufen der verkommenen Sklaven war daraufhin aus der Halle entkommen.
Die waren jetzt dort draußen, vor der Tür der Kontrollkammer.
Mit einer unsicheren Bewegung überprüfte er seine einzige Waffe: den Nadelhorn-Zauberstab. Er hätte nicht gedacht, dass er ihn irgendwann mal benützen müsste. Höchstens um eine aufsässige Wache einzuschüchtern, aber nicht im Kampf gegen die Gefangenen.
Er war mit einer handvoll Leute zurück geblieben, während Dremail mit drei seiner besten Krieger die Lage in den Gängen des Dran Kadaar auskundschaftete. Es galt heraus zu finden, wie viele der Gefangenen dem Gemetzel entkommen waren und nun frei in den Gängen herum streunten.
Nach einer kleinen Ewigkeit schließlich ertönte das vereinbarte Klopfsignal an der schweren Metalltür. Horas sprang auf und ließ Dremail mit seinen Getreuen in den Raum. Die Rüstung des Retiloiden war nass von Blut. Sklaven-Blut.
Obwohl es schwer war, in dem starren Echsengesicht eine Gefühlsregung zu erkennen, wusste Horas sofort, dass die Lage außerhalb des Kontrollraumes nicht gut war.
„Mindestens fünfzig Gefangene sind durchgebrochen. Waffen haben sie sich von meinen toten Leuten verschafft. Inzwischen hat sich der Abschaum in den umliegenden Kammern und Gängen verkrochen.“
„Wie sieht es in Richtung Ausgang aus?“ fragte Horas unsicher.
„Besser. Unsere restlichen Kämpfer haben sich in der Eingangshalle gesammelt. Sie versperren den Ausgang. Bisher ist noch kein einziger Sklave entkommen.“
Der Kerkermeister atmete auf. Noch war nicht alles verloren. Die Gefangenen hatten es nicht geschafft, die Kammern des Dran Kadaar gänzlich zu verlassen.
„Wie viele Männer haben überlebt?“
Dremail wiegte den geschuppten Kopf und antwortete ruhig: „Dreißig. Genug um diesen Haufen von Halsabschneider und Verbrechern zurück in die Zellen zu treiben.“ Dann fügte er hinzu: „Die sind feige wie Eidechsen.“
„Gut gemacht, Hauptmann. Kannst du uns zu den restlichen Wachen bringen?“
Dremail deutete auf den Ausgang. „Wir können sofort aufbrechen. Aber wir müssen uns beeilen. Solange die Sklaven zerstreut sind, können wir es leicht bis zur Eingangshalle schaffen. Aber wenn sie sich zu einer großen Bande zusammen rotten, wird es schwer.“
Horas nickte. Dann hob er zögernd die Hand und fragte mit gesenkter Stimme: „Eine Sache noch…hast du den blonden Knaben gesehen? Unter den Flüchtlingen? Oder unter den Toten?“
Der Reptiloide zuckte mit den breiten Schultern.
„Nein Milord. Er ist sicher noch in der Absicherungskammer, wo wir ihn vor dem Sturm hingebracht hatten. Niemand kann ohne Schlüssel die arkane Tür öffnen, die den Raum sichert. Und den Schlüssel habt ihr.“
Im Prinzip war das richtig, aber Horas hatte trotzdem seine Zweifel. Ohne den Meisterschlüssel hätte auch niemand sämtliche Zellentüren auf einen Schlag öffnen können. Und doch war genau das geschehen.
„Wir müssen den Knaben sofort wieder in unsere Gewalt bringen…“
Dremail fiel ihm ins Wort: „Diese Umweg wird uns in grosse Gefahr bringen.“
„Es ist der Wille des Magistrates, dass wir diesen Kerl um jeden Preis in Kardaraal abliefern.“
„Tot nützen wir dem Magistrat nichts. Wenn wir fallen, werden die restlichen Wachen fliehen. Dann sind euer Knabe und die restlichen Gefangenen für immer verloren. Wir haben den Dran Kadaar zu halten. Das ist unsere Pflicht gegenüber dem Magistrat, Kerkermeister.“
Zum ersten Mal seit Horas seinen Posten in diesem verfluchten Höllenloch angetreten hatte, spürte er echten Widerstand in der Stimme seines Offiziers. Er wollte noch einmal ansetzten, um den Reptiloiden umzustimmen, doch dann erinnerte er sich an das Desaster in der Kugelhalle, das er durch seinen Starrsinn ausgelöst hatte… und senkte nur seinen Kopf.