Kapitel II: der Sturm (6)
Um Jerune herum brach das Chaos los. Noch war er unverletzt, doch angesichts der kalten Präzision, mit der die Maschine die Flüchtlinge niedermetzelte, war es nur noch eine Frage von Augenblicken, bis ihn eines der Geschosse erwischen würde.
Während er verzweifelt nach Deckung suchte, spürte er in seinem Inneren, wie seine Seele erneut vom allumfließenden Aether abgeschnitten wurde. Der Musterorkan hatte sich endgültig gelegt und der Eisenwächter absorbierte nun sämtliche verbliebene arkane Energie, die sich noch in der Kugelhalle befand.
Nur ein paar Schritte vor Jerune ragte das Portal auf. Davor hatte sich aber eine dichte Traube von Gefangenen angestaut, die panisch versuchten, sich in Sicherheit zu bringen und so den Ausgang komplett verstopften.
Doch der Druck der Menge ließ plötzlich nach. Aus dem Augenwinkel heraus sah Jerune, wie der Halbriese, der ihn und Saark bis eben eingeklemmt hatte, von einer schweren Messinglanze durchbohrt wurde und nach hinten weg kippte. Saark hob eine zerborstene Armbrust auf, die kurz zuvor noch in den Händen einer Wache gewesen sein musste. Dann packte er Jerune am Arm und zerrte ihn hinter sich her, während er sich mit der Armbrust – wie mit einer Keule – eine Schneise durch die Menge prügelte. Ohne Rücksicht drosch er von hinten auf die Flüchtlinge vor dem Portal ein. Jerune wollte protestieren, doch statt dessen kniff er die Augen zusammen, um das Grauen nicht mit ansehen zu müssen.
Und während der Eisenwächter einen kurzen Herzschlag inne hielt, um den Wald aus Waffen nachzuladen, bahnte Saark einen blutigen Weg für sich und Jerune durch das Tor. Raus aus der Kugelhalle.
Der Kerkermeister saß zitternd auf einem der harten Steinthrone der Kontrollkammer.
Die Entscheidung, den Eisenwächter zu aktivieren, war in der Tat nicht die Beste gewesen. Die Maschine hatte sowohl die Sklaven als auch seine eigenen Leute niedergemetzelt. Dann hatten die Wachen am Portal die Nerven verloren und ihren Posten aufgegeben.
Ein ganzer Haufen der verkommenen Sklaven war daraufhin aus der Halle entkommen.
Die waren jetzt dort draußen, vor der Tür der Kontrollkammer.
Mit einer unsicheren Bewegung überprüfte er seine einzige Waffe: den Nadelhorn-Zauberstab. Er hätte nicht gedacht, dass er ihn irgendwann mal benützen müsste. Höchstens um eine aufsässige Wache einzuschüchtern, aber nicht im Kampf gegen die Gefangenen.
Er war mit einer handvoll Leute zurück geblieben, während Dremail mit drei seiner besten Krieger die Lage in den Gängen des Dran Kadaar auskundschaftete. Es galt heraus zu finden, wie viele der Gefangenen dem Gemetzel entkommen waren und nun frei in den Gängen herum streunten.
Nach einer kleinen Ewigkeit schließlich ertönte das vereinbarte Klopfsignal an der schweren Metalltür. Horas sprang auf und ließ Dremail mit seinen Getreuen in den Raum. Die Rüstung des Retiloiden war nass von Blut. Sklaven-Blut.
Obwohl es schwer war, in dem starren Echsengesicht eine Gefühlsregung zu erkennen, wusste Horas sofort, dass die Lage außerhalb des Kontrollraumes nicht gut war.
„Mindestens fünfzig Gefangene sind durchgebrochen. Waffen haben sie sich von meinen toten Leuten verschafft. Inzwischen hat sich der Abschaum in den umliegenden Kammern und Gängen verkrochen.“
„Wie sieht es in Richtung Ausgang aus?“ fragte Horas unsicher.
„Besser. Unsere restlichen Kämpfer haben sich in der Eingangshalle gesammelt. Sie versperren den Ausgang. Bisher ist noch kein einziger Sklave entkommen.“
Der Kerkermeister atmete auf. Noch war nicht alles verloren. Die Gefangenen hatten es nicht geschafft, die Kammern des Dran Kadaar gänzlich zu verlassen.
„Wie viele Männer haben überlebt?“
Dremail wiegte den geschuppten Kopf und antwortete ruhig: „Dreißig. Genug um diesen Haufen von Halsabschneider und Verbrechern zurück in die Zellen zu treiben.“ Dann fügte er hinzu: „Die sind feige wie Eidechsen.“
„Gut gemacht, Hauptmann. Kannst du uns zu den restlichen Wachen bringen?“
Dremail deutete auf den Ausgang. „Wir können sofort aufbrechen. Aber wir müssen uns beeilen. Solange die Sklaven zerstreut sind, können wir es leicht bis zur Eingangshalle schaffen. Aber wenn sie sich zu einer großen Bande zusammen rotten, wird es schwer.“
Horas nickte. Dann hob er zögernd die Hand und fragte mit gesenkter Stimme: „Eine Sache noch…hast du den blonden Knaben gesehen? Unter den Flüchtlingen? Oder unter den Toten?“
Der Reptiloide zuckte mit den breiten Schultern.
„Nein Milord. Er ist sicher noch in der Absicherungskammer, wo wir ihn vor dem Sturm hingebracht hatten. Niemand kann ohne Schlüssel die arkane Tür öffnen, die den Raum sichert. Und den Schlüssel habt ihr.“
Im Prinzip war das richtig, aber Horas hatte trotzdem seine Zweifel. Ohne den Meisterschlüssel hätte auch niemand sämtliche Zellentüren auf einen Schlag öffnen können. Und doch war genau das geschehen.
„Wir müssen den Knaben sofort wieder in unsere Gewalt bringen…“
Dremail fiel ihm ins Wort: „Diese Umweg wird uns in grosse Gefahr bringen.“
„Es ist der Wille des Magistrates, dass wir diesen Kerl um jeden Preis in Kardaraal abliefern.“
„Tot nützen wir dem Magistrat nichts. Wenn wir fallen, werden die restlichen Wachen fliehen. Dann sind euer Knabe und die restlichen Gefangenen für immer verloren. Wir haben den Dran Kadaar zu halten. Das ist unsere Pflicht gegenüber dem Magistrat, Kerkermeister.“
Zum ersten Mal seit Horas seinen Posten in diesem verfluchten Höllenloch angetreten hatte, spürte er echten Widerstand in der Stimme seines Offiziers. Er wollte noch einmal ansetzten, um den Reptiloiden umzustimmen, doch dann erinnerte er sich an das Desaster in der Kugelhalle, das er durch seinen Starrsinn ausgelöst hatte… und senkte nur seinen Kopf.
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